Kurzgeschichte
Tante Liesel
Tante Liesel war meine Mutter. Da war ich mir ganz sicher! Sie wusste nichts davon. Unsere Zeit war dunkel, ich schenkte ihr mein Herz.
Tante Liesel erwartete nicht mehr allzu viel vom Leben. Wüst war man mit ihr umgegangen. Ihre schöne Seele hauste in einem kleinen Körper, obendrauf saß ein grauer Wuschelkopf, etwas tiefer zwei dicke Arme, daran Arbeitshände festgeschraubt. Ihre ausgelatschten Füsse trugen grob beknochtes Fleisch. Ist man in so einem Zustand, sind viele Wehwehs berechtigt! Da konnte man nur noch Haltung wahren. Die runde Tante Liesel bewegte sich jedoch unerwartet flink und war behende. Für mich hatte sie nichts Unschönes, meine liebe Tante Liesel, noch störte mich irgend etwas an ihr. Hatte sie doch das Allerschönste, was ein Mensch nur je haben kann. Braun, dicht und lang bewimpert waren ihre Seelenfenster. Mit großer Strahlkraft leuchteten sie aus einem runden Gesicht in die Welt. Sensiblen Naturen wird so das Lebensdrumherum erhellt und macht es erträglich. Gütig, liebevoll und sehr bescheiden war Tante Liesel!
Sie wollte eine Tochter haben, genauso ein Mädchen wie ich es war. Wir beide wussten davon, das war unser Geheimnis. Ihr großes Lebensdrama hingegen kannten alle. Ein kleines Töchterchen starb ihr weg, drei Tage nach einer dramatisch verlaufenden Geburt.
Dass Tante Liesel nicht meine Mutter sein konnte, erkannte ich erst bei näherer Untersuchung. Dieses Ergebnis hatte mit ihren Söhnen zu tun! Ich, ein kleines Mädchen, kurz vor der Einschulung, war in sie verliebt. Das geschah einfach so, ich konnte nichts dagegen tun! Schauten doch alle ihre Jungen mit Rehaugen in die Welt, jeder Kopf von prachtvollen, blonden Locken umrahmt. Tante Liesel im Fünferpack! Du lieber Gott! Meine Mutter durfte also nicht Tante Liesel sein!
Durch die Bank schöne Jungs! Ganz unverholen mochte mich der Kleinste. Das nahm ich überhaupt nicht zur Kenntnis. Denn in frühen Jahren war ich bereits festgelegt, man verliebt sich nur in ältere Burschen! Sehr schade und auch noch so folgenreich, der Zweitjüngste mochte mich nicht. Jedenfalls hat er mich immerzu gekniffen, geboxt und gepiesackt. Er hatte doch einen bösen Plan? Ist es mit dieser gemeinen Methode gelungen, mich für die Männerwelt brav zu halten? Ich erinnere mich nur dunkel, aber so muss es gewesen sein, in das mittlere Kind der Tante Liesel war ich bis über beide Ohren verliebt. Der pubertäre Junge hat das wohl gewusst, sorgte er doch für großen Abstand. An ihm habe ich erlebt, wie erbarmungslos und gemein einseitige Liebe mit Riesenfaust zuschlägt! Ja, mein erstes Liebesleid habe ich an einem Sohn meiner geliebten Tante Liesel erfahren müssen!
Tante Liesel fand ich am besten, waren wir unter uns. Das war beim Wäschewaschen so, lag aber auch am Waschraum mit den vielen Schwalbennestern. Jedes Jahr kamen die Befrackten wieder, um im Kellergewölbe zu brüten. Darauf war Tante Liesel sehr stolz. Bringen doch nur Schwalben Glück! Wurde man von einem Vogel auch noch bekackt, war einem das Glück garantiert.
Wie konnte es anders sein, Tante Liesel war eine begnadete Köchin und Gärtnerin. In ihrem Gemüsegarten herrschte Ordnung. Wie schön doch Kohl und Salat in einer Reihe standen. Dann das leuchtende Tomatenrot, das Gelb der Staudenbeeren, die vielen Kräuter. Von allem durfte ich naschen. Wir hatten auch ein Lieblingsobst gemeinsam! Es waren die Birnen! Nie mehr im Leben habe ich bessere bekommen!
Viele Jahre später stand ich an Tante Liesels Grab und weinte hemmungslos. Das musste noch einmal nach Jahren so sein. Überraschend für mich die große, steinerne Mädchenfigur. Wie anrührend doch die gebeugte Gestalt auf ihrem Grab. Klaglos schient die Schöne das Elend der Welt zu tragen. Ein treffendes Bild meiner geliebten Liesel?
Bei der Suche nach Tante Liesels Haus hatte ich große Probleme. Alles war so verändert. Eine Nachbarin erkannte mich und behauptete steif und fest, ich hätte mich nicht verändert. Das war sicher voll und ganz ihre Wahrheit. Könnte man aber in mein Inneres sehen, fände man meine Liebe und Verehrung für Tante Liesel. Kann es sein, dass nach so vielen Jahren strahlende Gefühle für einen Menschen aus einem herausleuchten?